Das schwindelerregende Universum von Karl Gerstner und Vilem Flusser

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Description

Das schwindelerregende Universum von Karl Gerstner und Vilem Flusser

Rezension auf den Artikel von Karl Gerstner:
Vilem Flusser und die Farben
Im Kunstforum international


‚Farbe ist Licht, das heißt das sichtbare Spektrum der elektromagnetischen Wellen; hat also mit Physik zu tun. Farbe ist Stoff, das heißt Materie, mit der wir sie darstellen können; hat also mit Chemie zu tun. Farbe ist Wahrnehmung, das heißt der Vorgang, der in unseren Augen stattfindet; hat also mit Physiologie zu tun. Farbe ist Empfindung, das heißt das, was unser Gehirn aus der Wahrnehmung macht; hat also mit Psychologie zu tun.

An der Farbe ist noch eine weitere Wissenschaft beteiligt: die Mathematik, die sich mit der Farbe als einem Strukturproblem befasst. Sie ordnet die Vielfalt der Farben nach objektiven Parametern. Und entwirft Modelle, in welcher jeder einzelne Farbton seinen genau definierten Ort hat.‘
Karl Gerstner, Die Formen der Farben; Über Wechselwirkung der visuellen Elemente, Verlag Athenäum, Frankfurt 1986, S. 13

So eröffnet Karl Gerstner sein 1986 erschienenes Buch ‚Die Formen der Farben – Über die Wechselwirkung der visuellen Elemente‘. Diesem Buch zu Grunde liegt Gerstners Aussage: Form ist der Körper der Farbe – Farbe ist die Seele der Form.
Ausgehend von diesen Gedanken sollte dies auch Thema sein in einer, wie Gerstner schreibt ‚synergetischen Begegnung‘ mit Vilem Flusser, die darauf abzielen sollte, einen neuen Farbencode zu entwickeln. Es handelt über das Bemühen, die Farben in ein rationales System zu bringen. In ein denotatives System mit der Präzision des Zahlencodes, in dem jede Farbe mit einer neutralen Grundbedeutung im Sinne eines Symbolwerts belegt ist. Auch wenn dieses Unternehmen nach Flussers Tod 1991 unvollendet blieb, und vielleicht überhaupt nie vollendet worden wäre, ist es Karl Gerstner wert zumindest Bruchstücke davon festzuhalten.

Schon seit der Antike besteht das Bemühen die Farben in ein rationales System zu bringen, stellt Gerstner in seinem Buch fest. Allerdings belief sich dies auf nicht mehr als rudimentäre, metaphysische Spekulationen. Differenzierte Modelle entstehen erst mit dem Beginn der exakten Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert. Und erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwarf Philipp Otto Runge, ein Maler der deutschen Romantik, das erste in sich schlüssige und anschauliche Modell.



Philipp Otto Runges Farben-Kugel ‚oder Construction des Verhältnisses aller Mischungen zueinander, und in ihrer vollständigen Affinität.‘
Bild aus: Karl Gerstner, Die Formen der Farben; Über Wechselwirkung der visuellen Elemente, Verlag Athenäum, Frankfurt 1986, S. 12

‚Es hat die Form einer Kugel, die wie der Globus gelesen werden kann. Für den Nordpol steht Weiß, für den Südpol Schwarz, für den Äquator der Farbkreis: Die reinen Farben von Gelb über Rot, Blau, Grün zurück zu Gelb. Die Pole werden durch Längengrade über den Äquator miteinander verbunden und von Breitengraden geschnitten. Auf diese Weise entstehen auf der Oberfläche der Kugel Felder, die mit Zwischentönen ausgefüllt werden.‘
Karl Gerstner, Die Formen der Farben; Über Wechselwirkung der visuellen Elemente, Verlag Athenäum, Frankfurt 1986, S. 14

‚Gibt es nicht schon Farbencodes in Hülle und Fülle?‘ fragt sich Karl Gerstner in Anbetracht der zahlreichen Farbmodelle die seit Runge entstanden sind. ‚In der Heraldik? Im Straßenverkehr? In der Psychologie? In der Signalethik? Im täglichen Leben?‘ Für Gerstner ist klar, dass Vilem Flusser nicht diese Farbencodes meinte, da sie zu unpräzise und vieldeutig sind.

Vilem Flusser, der sich Zeit seines Lebens mit dem Untergang der Schriftkultur befasste, schwebte die Idee vor, das obsolet gewordene Alphabet, als dem Code für Sprache, zu ersetzten, die Zahlen, als den Code für Logik, zu erweitern und er postulierte durch das Entwickeln eines den Zahlen analogen Farbencodes eine neue Kulturstufe. Mit dem einander angleichen des Farbencodes und des Zahlencodes sollte das Denken den Sinnen und umgekehrt, die Sinne dem Denken zugänglich gemacht werden. Dazu Vilem Flusser: ‚Die Symbole der Zahlencodes bedeuten Quantitäten. Wer ‚Quantifizieren‘ sagt, meint: in Rationen zerlegen. Er meint, die Geste des rationellen Denkens. Die Farben, wenn als Symbole angewandt, bedeuten Qualitäten. Und wer ‚Qualifizieren‘ sagt, meint: erlebbar machen.‘ Farbe versteht sich dann in der Gesamtheit der Farben als eine Struktur, in der jede Farbe einen genau definierten Ort in einem mehrdimensionalen System zugehörig ist. Präsentiert als ein geordnetes Universum. Ebenso wäre ein derartiger Farbencode ein Werkzeug zur Überbrückung der Scheidung von wissenschaftlichem und künstlerischem Denken.
Im Farbencode sah Flusser einen Hoffnungsträger hinsichtlich des ästhetischen Denkens. Die rationale Vernunft sollte ästhetisiert und die Ästhetik, im Sinne einer Einbildungskraft, dem Rationellen unterzogen werden.

Im Verlauf vorangegangener Kulturstufen, in denen Objekte zu Bildern, Bilder zu Texten und Texte zu Zahlen transcodiert wurden, entfernte sich unser Wissen zunehmend vom Erleben, von dem was die Sinnesorgane vermitteln, konstatiert Flusser. Die Zahlen bilden die Grundlage der modernen Welt, ihrer Wissenschaft und Technologie. Für Vilem Flusser und Karl Gerstner steht die Frage im Raum, wie sich unsere Kultur entwickelt hätte, wenn nicht nur die Zahlen, sondern auch die Farben und respektive die Formen unsere Paradigmen beeinflusst hätten, und wissenschaftliches Denken mit ästhetischer Erfahrung in einen phänomenologischen Zusammenhang gebracht würden.

Der besondere Reiz des Farbenuniversums ist die Eigenschaft der Endlichkeit zum einen, und der unbegrenzten Teilbarkeit, oder auch Mischbarkeit wie Gerstner meint, zum anderen. Während das Zahlenuniversum von Null aus in Richtung Plus und Minus unendlich ist, entspinnt sich das Farbenuniversum unendlich nach innen, ausgehend von den äußeren Grenzen von Schwarz und Weiß, dem Hell und dem Dunkel. Während es bei den Zahlen die zehn Primärzeichen (Ziffern) gibt, definiert sich das Farbenuniversum durch die Spektralfarben des Lichts, oder Maxwells drei Primärfarben, plus Schwarz und Weiß. Gerstner beschreibt das von ihm und Flusser gedachte Modell des Farbenuniversums, das er ‚Colorarium‘ nennt, in Form eines Kristallgitters an dessen Knotenpunkte die Farben sind, als Licht elektronisch zu generieren, und das wie ein Instrument zu spielen sei.

Architektonisch gesprochen könnte man Flussers und Gerstners Theorie so verstehen, dass mit den Zahlen die Konstruktion im Zusammenhang steht und mit den Farben die Komposition. Man könnte dies die Trennung, oder eben auch die Nicht-Trennung, von Kernform und Kunstform nennen, wie sie Karl Bötticher in seiner Schrift zur Tektonik in organischen Zusammenhang brachte. Er beschäftigte sich dabei mit der näheren Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Inneren und dem Äußeren von Gebäuden.

Es ginge dabei darum, die materielle Komponente von der symbolischen zu unterscheiden oder auch sie einander näher zu bringen. In Analogie zu Flussers und Gerstners Idee zum Farbencode wäre dann auch die Kunstform mit einer neutralen Grundbedeutung im Sinne einer Symbolik belegt und nicht konnotativ, sprich subjektiv, emotional oder assoziativ. Kunst und Kernform stünden in einer komplementären Ergänzung.

Das Schwindelerregende läge wohl in der Gleichzeitigkeit von Absolution und Unendlichkeit der symbolischen Formen. Gerstner benennt dies als ein Zusammenspiel ‚prozessualer Vorgänge aus allen Bereichen der Wissenschaft, Wirtschaft und Technik.‘ Ob ein derartiges Unternehmen gelingen möge, ohne bereits gedanklich ins Taumeln zu geraten, bleibt vorerst offen. Vielleicht ist dieses Ziel zu hochgesteckt. So ist auch die Zusammenarbeit zwischen Gerstner und Flusser zu keinem konkreten Schluss gekommen, denn sie hatten Größeres vor: ‚Ein Monument wie das „Géode“ in Paris, mit Publikum inmitten der Farben.‘... so die Beiden.
Period20 Jan 2023
Event titleColors
Event typeExhibition
LocationGraz, AustriaShow on map
Degree of RecognitionInternational

Fields of Expertise

  • Sustainable Systems